Noten in der politikwissenschaftlichen Hochschullehre

Eine Skizze

Weil ich mich in diesem Semester erneut über das Benoten geärgert habe, habe ich am Institut einen Vorschlag unterbreitet, in den Einführungsmodulen auf Ziffernnoten zu verzichten und stattdessen Leistungen mit Bestanden/Nichtbestanden zu bewerten. Den Vorschlag, den ich als Diskussionsanregung verstehe, halte ich für ohne größere Probleme umsetzbar und einen Schritt zur Verbesserung des Studiums. Auch wenn der Vorschlag für diejenigen, die sich mit dem Thema beschäftigen, vermutlich wenig Neues bietet, wollte ich ihn an dieser Stelle dokumentieren, um auch online in den Austausch über Noten in der Hochschullehre zu kommen (mir scheint in Bezug auf Schulnoten ist die Diskussion schon etwas weiter, vgl. z.B. die Beiträge unter #notenade).

Was spricht für den Vorschlag

  • Noten setzen Studierende sofort unter Druck. Wenn das erste Jahr des Studiums tatsächlich der Orientierung innerhalb einer neuen Umgebung dienen soll (wie es etwa der Begriff Orientierungsprüfung nahelegt), dann ist eine Benotung der dort erbrachten Leistungen kontraproduktiv. Anstatt Studierenden Zeit und den Raum zu geben, sich an der Universität und einem neuen Fach einzufinden, zwingt die Benotung sie dazu, Ihr Studium bereits in den ersten Monaten vom Ende, der BA-Note, her zu denken. Die Tatsache, dass Noten laut empirischen Untersuchungen zu „a sense of hopelessness, social comparison, as well as a fear of failure”1 beitragen, sehe ich in den ersten Semestern als besonders gewichtig.
  • Formen der Evaluation ohne Ziffernnoten haben positive Effekte auf die Fähigkeit der Studierenden zum selbsständigen Lernen (wie sie beispielsweise die Prüfungsordnung, § 1, Abs. 2 fordert) und die intrinsische Motivation von Studierenden.2 De facto findet unbenotes Lernen schon erfolgreich an vielen Stellen am Institut statt; neben den Tutorien ist hier beispielsweise die Promotionsphase zu nennen, bei der es zwar zu Ende der Promotionsphase eine Benotung stattfindet, während der aber über Jahre hinweg unbenotetes Lernen stattfindet.
  • Noten in den ersten Semestern verstärken bestehende Ungleichheiten. Werden bereits auf die Prüfungsleistungen aus dem ersten Semester Noten gegeben, verstärkt das die bestehenden ungleichen Vorraussetzungen, mit den Studierenden an unser Institut kommen. Es erscheint sinnvoll, ihnen Zeit zu geben, eventuelle Rückstände zu erkennen und aufzuarbeiten. Davon sind z.B. Studierende, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, besonders betroffen. Das Ziel von Feedback sollte schließlich weder eine Benotung des gymnasialen Politikunterrichts noch der Sprachfähigkeit sein.
  • Benotung verhindert effektives Lernen. Der bestehende Forschungsstand weist darauf hin, dass Noten dazu führen, dass sich Studierende stärker darauf konzentrieren, wie ihr Lernen bewertet wird, als darauf was sie lernen3 – am Institut wird das z.B. in der unter Studierenden verbreiteten Praxis sichtbar, die Seminarwahl nach den erwarteten Noten vorzunehmen. Insbesondere in den ersten Semestern, in denen die Grundlagen für das weitere Studium gelegt werden, wäre aber ein Fokus auf die Inhalte und Arbeitsweisen der Politikwissenschaft wichtiger.
  • Da die meisten Veranstaltungen in den ersten Veranstaltungen von einer großen Zahl von Studierenden besucht wird, erhalten Sie mit der i.d.R. summativen Bewertung kein ausführliches Feedback. Um überhaupt Feedback außer der Note zu erhalten, müssen die Studierenden nach Klausuren die Klausureinsicht besuchen. Die Klausurnoten können so keine nennenswerte Funktion als Feedback erfüllen. Ausgehend von alleine einer Note können Studierende weder ihre Lernstrategien, noch ihre Strategien für Klausuren verbessern.
  • Die Benotung in den Einführungsmodulen frisst Zeit. Lehrende, die ohnehin überlastet sind, verbringen einen beachtlichen Teil ihrer Zeit mit der Benotung und der damit verbundenen Bürokratie.
  • Benotung, nicht Inhalte, strukturieren die Einführungsveranstaltungen. Der Zwang, am Ende des Semesters Noten zu vergeben, die außerdem vergleichbar und fair (sprich: häufig zwischen Seminargruppen standardisiert) sein sollen, führt zu Einschränkungen in der Seminargestaltung. Viel Zeit in den Seminaren wird auf Referate verwendet, die Interessen der Studierenden müssen missachtet werden (da „nicht klausurrelevant”), und die didaktische Freiheit ist eingeschränkt.
  • Die Aussagekraft von Referatsnoten ist ohnehin mäßig; ein Student sagte mir vor einiger Zeit: „Eine 2,0 aufs Referat ist im Grunde wie eine 4”. Diese Wahrnehmung scheinen viele Kommiliton*innen und Kolleg*innen zu teilen. Durch das dadurch de facto auf die 4 Notenstufen von 1,0 bis 2,0 verengte Notenspektrum tragen die Noten (die im Fall von Referaten ohnehin i.d.R. maximal 2 CP zählen) nicht wesentlich zur Differenzierung bei. Einen einfachen Ausweg sehe ich nicht. Ich möchte schließlich meinen Studierenden nicht „aus Prinzip” Noten geben, die von allen, inklusive der Empfänger*innen als schlechte Noten wahrgenommen werden (außerdem gilt: je besser die Noten, desto besser die Evaluation).4
  • Dazu kommt, dass die Vergleichbarkeit von Noten im Studium trotz aller Standardisierungsbemühungen nie in dem Maße gegeben ist, das sie vorgeben und das Studierende sich zu wünschen scheinen.5

Mögliche Gegenargumente

Natürlich existiert eine Reihe guter Argumente für das Beibehalten von Noten, auf die jeder Vorschlag zur Abschaffung von Ziffernnoten eingehen sollte. Dazu zähle ich:

  • Je weniger Noten Studierende im Studium erhalten, desto höher ist die Bedeutung der einzelnen Note. Würden die Noten im Einführungsmodul abgeschafft, in den anderen Modulen aber beibehalten, führt das zwangsweise zu einer Aufwertung der in diesen Modulen erbrachten Leistung. Nun lässt sich einerseits argumentieren, dass die anderen Module auch wichtiger sind, und ich glaube tatsächlich dass insbesondere in den Wahlmodulen, wo das Betreuungsverhältnis häufig enger und das Interesse der Studierenden womöglich dank der Wahlfreiheit höher ist, zumindest tiefergehende Lernprozesse stattfinden. Andererseits ist dieser Effekt im Sinne der „Orientierungsphase“ (s.o.) ja auch durchaus erwünscht.
  • Studierende brauchen Noten (für Stipendien, Bewerbungen, etc.). Auch das ist ein Argument für das Beibehalten der Benotungspraxis, denn gerade in den ersten Semestern stehen Bewerbungen um Stipendien oder HiWi-Stellen an, die in der Regel Transcripts fordern. Hier habe ich allerdings den Eindruck, dass auch dort Noten gegenüber Gutachten (die wiederum Mehrarbeit für Lehrende bedeuten) an Bedeutung verlieren, und dass zum Zeitpunkt, an dem sich Studierende häufig für Stipendien bewerben, ohnehin noch nicht viele Noten vorliegen.

Fazit

Der hier skizzierte Vorschlag wäre ein Kompromissvorschlag, insofern als der er weder die vollständige Abschaffung von Ziffernnoten im Studium zur Folge hätte, noch die Möglichkeit, Kurse nicht zu bestehen ausschließt, gleichzeitig aber Schritte in Richtung des „Ungradings” geht. Ich halte ihn deshalb für durchaus praktikabel. An anderen Universitäten und Fakultäten gibt es außerdem bereits Erfahrungen mit dem Verzicht auf Ziffernnoten in den ersten Semestern3 oder in einzelnen Veranstaltungen. Auf diese Erfahrungen könnte eine Neuausrichtung der Benotungspraxis aufbauen. Wünschenswert wäre, die Diskussion und einen solchen Prozess in enger Abstimmung unter Beteiligung von Lernenden und Lehrenden am Institut durchzuführen, um tatsächlich den Erfolg der Maßnahmen zu ermöglichen.


  1. Chamberlin, Kelsey, Maï Yasué, und I-Chant Andrea Chiang. 2018. The impact of grades on student motivation. Active Learning in Higher Education:1469787418819728. DOI: https://doi.org/10.1177/1469787418819728. S. 11. ↩︎

  2. White, Casey B., und Joseph C. Fantone. 2010. Pass–fail grading: laying the foundation for self-regulated learning. Advances in Health Sciences Education 15(4):469–477. DOI: https://doi.org/10.1007/s10459-009-9211-1↩︎

  3. White, Casey B., und Joseph C. Fantone. 2010. Pass–fail grading: laying the foundation for self-regulated learning. Advances in Health Sciences Education 15(4):469–477. DOI: https://doi.org/10.1007/s10459-009-9211-1. S. xvi; McMorran, Chris, und Kiruthika Ragupathi. 2020. The promise and pitfalls of gradeless learning: responses to an alternative approach to grading. Journal of Further and Higher Education 44(7):925–938. DOI: https://doi.org/10.1080/0309877X.2019.1619073. S. 8. ↩︎ ↩︎

  4. Entweder die guten Noten sind Ausdruck besseren Lernens, das von den Studierenden in der Evaluation quittiert wird, oder – und darauf deutet der Forschungsstand – Studierende belohnen gute Noten durch gute Evaluationen (vgl. dazu ausführlich Wang, Guannan, und Aimee Williamson. 2022. Course evaluation scores: valid measures for teaching effectiveness or rewards for lenient grading? Teaching in Higher Education 27(3):297–318. DOI: https://doi.org/10.1080/13562517.2020.1722992)↩︎

  5. Blum, Susan Debra. 2020. Why Ungrade? Why Grade? In Ungrading: why rating students undermines learning (and what to do instead), Hrsg. Susan Debra Blum, und Alfie Kohn, 1–24. Morgantown: West Virginia University Press. S. 12. ↩︎

Matthias Heil
Matthias Heil
Doktorand

Ich promoviere an der Universität Heidelberg zum Thema Schule und Revolution und arbeite als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Moderne Politische Theorie. Ich interessiere mich für politische Bildung, Politische Theorie und dafür, wie beides zusammenhängt.